Sehr geehrter Herr Riemann von der St. Jacobi-Schützenbruderschaft,

sehr geehrter Pfarrer Zele,

sehr geehrter Herr Bezirksbürgermeister Brinktrine,

sehr geehrter Herr Ratsherr Bruns, lieber Meik,

meine Damen und Herren,

ich habe mich sehr über die Anfrage gefreut und es ist mir eine Ehre, heute die Rede zum Volkstrauertag hier in Nienberge halten zu dürfen. Dem „Volkstrauertag“ kommt in unseren Tagen angesichts des schrecklichen Krieges am östlichen Rand Europas – und ganz aktuell – im Heiligen Land eine besondere Bedeutung zu.

Wir leben in einer Zeit, in der das uns so geläufige, oft aber bloß floskelhaft oder formelhaft gebrauchte Wort von der „wehrhaften Demokratie“ einen ganz anderen Klang bekommen hat. Das gilt im Bereich der Außenpolitik wie für das Innere gleichermaßen. Die Demokratie der Weimarer Republik ist vor allem deswegen untergegangen, weil es am Ende an Demokraten mangelte. Demokratie als grundlegende Gesellschaftsform unseres westlichen, freiheitlichen und vom Wohlstand geprägten Lebensstils braucht standhafte und mutige Demokratinnen und Demokraten, die für diese Werte einstehen und notfalls das staatliche Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaates gegen Angriffe von innen und außen verteidigen. Die „Zeichen der Zeit erkennen“ bedeutet heute, besonders die Notwendigkeit der Wehrhaftigkeit der Demokratie zu betonen.

Ich habe mir bei der Vorbereitung dieser Rede ein Motto, ein Leitmotiv aufgeschrieben, mit dem ich die Funktion des Volkstrauertages für unser Gemeinwesen und das Thema dieses Gedenktages für mich sortiert habe:

Erinnern bedeutet vergegenwärtigen – Gegenwart ist unsere Verantwortung – die zukünftige Wirkung ist unser Ansporn und Hoffnungshorizont!

Meine Damen und Herren,

seit der ersten zentralen Veranstaltung 1950 im Bonner Bundestag begehen wir an diesem Sonntagmorgen den Volkstrauertag als stilles Gedenken. In Abgrenzung zum propagandistischen „Heldengedenktag“ der Nazis im Dritten Reich geht es uns um die Schrecken des Krieges und nicht um seine Glorifizierung. Der Volkstrauertag soll ein gemeinschaftliches Gedenken der Kriegsopfer der Deutschen sein. Das deutsche Volk soll durch dieses gemeinsame Gedenken zusammenwachsen, unabhängig von politischer Gesinnung, Religionszugehörigkeit oder sozialem Status. Bereits vor gut hundert Jahren hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge an die Toten des Ersten Weltkrieges gedacht.

Der besondere Charakter des Volkstrauertages ist, dass er Ausdruck für unsere Erinnerungskultur ist, mit der wir dem menschlichen Preis gedenken für fatale politische Entscheidungen. Man muss sich diese konkret-privaten Folgen unseres abstrakt-politischen Entscheidens immer wieder bewusst machen: Als Abgeordneter des Deutschen Bundestages stimme ich über die Einsätze der Bundeswehr im Ausland ab. Vorher war ich als Landtagsabgeordneter mit zuständig für die Ausstattung und Fähigkeiten der Polizei. Bei allen politischen Entscheidungen geht es immer um das Schicksal vieler einzelner Menschen, um Lebenschancen, Biografien, Gesichter. Und die Tragweite solcher Entscheidungen lässt sich am Ende nur aus Sicht der Familien, der Freunde und der Trauernden wirklich einschätzen.

Die Bezeichnung Volkstrauertag besteht aus drei Wörtern und damit werden die drei Dimensionen unseres heutigen Anlasses deutlich: Zuerst geht es um den Begriff des „Volkes“. Wir sind heute vorsichtig mit diesem Begriff, weil er in Deutschland so oft diskreditiert wurde und reden lieber von der Gesellschaft. Aber das trifft es nicht richtig. Denn anders als bei soziologischen Analysen über Individualisierung, Migration und Polarisierung meint Volk am Tag des Volkstrauertags etwas anderes, nämlich eher so etwas wie Schicksals- und Wertegemeinschaft. Und wir müssen uns fragen, wer ist das Volk, welche Kreise ziehen wir mit diesem Begriff, geht es um die Nation, um Europa, um das Sicherheitsbündnis der Nato oder gar um die ganze freie Welt? Am Volkstrauertag geht es um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Alle, die zu uns gehören und mit uns in Deutschland leben wollen, müssen diese Erinnerungskultur mittragen.

Mit dem zweiten Begriff „Trauer“ klingt die emotionale Seite an. Es geht um die Gefühle. „Gesellschaft“ ist da vielleicht ein zu kalter und rationaler Begriff. Heute ist vielmehr die personale Dimension angesprochen. Kriege und militärische Auseinandersetzungen sind eben kein Schach- oder Computerspiel, nicht mit Statistiken zu erfassen und bloßes Ergebnis technisch-strategischer Gedankenspiele. Und es geht um die Beziehungsebene: Ich habe als Kind meinen Großvater immer gebeten, mir vom Krieg zu erzählen: „Wie war das früher?“ Heute geht es darum, was es bedeutet, einen Verlust zu erfahren: Aus familiärer Sicht wie aus Sicht der Kameraden. Bei Kameradschaft denke ich immer wieder an die Erzählung meiner Oma: Dass mein anderer Großvater die Gefangenschaft nur deswegen überlebte, weil ein Kamerad ihm bei einem Schwächeanfall – eingepfercht auf einer Sumpfwiese – aus seiner eisernen Ration sein letztes Stück Schokolade geschenkt hat, was ihn wieder aufpäppelte. Heute, am Volkstrauertag, geht es um Trauer und Freude, um Angst und um Dankbarkeit der Überlebenden und aller Nachkommen.

Und schließlich geht es drittens beim Volkstrauertag um einen bestimmten Tag, um einen jährlichen Rhythmus, immer wiederkehrend. Diese Ritualisierung kann die Gefahr beinhalten, formelhaft zu werden. Ritualisierung, die mit Leben gefüllt wird, bedeutet aber auch die Chance, besondere Bedeutsamkeit auszudrücken, zu etablieren und weiterzuvermitteln. Und es ist gut, dass dieser Tag bestimmte Formen hat und dass damit auch ein besonderes Pathos zum Ausdruck kommt. Der Volkstrauertag gehört mit seinen Symbolen in den zivilreligiösen Bereich unserer politischen Kultur und ich freue mich sehr, dass wir ihn im Zusammenhang mit einem bekenntnis-religiösen Gottesdienst verbunden haben.

Erinnern bedeutet vergegenwärtigen – Gegenwart ist unsere Verantwortung – die zukünftige Wirkung ist unser Ansporn und Hoffnungshorizont!

Angesichts des Leids und der Schrecken der Kriege, die aktuell unsere Nachrichten dominieren, ist es auch gut, sich an die Wunder der Versöhnung zu erinnern, die wir Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg erfahren durften. Versöhnung mit den Alliierten als den ehemaligen Kriegsgegnern auf dem Weg zum Frieden, den wir nun schon beinahe 8 Jahrzehnte erfahren dürfen.

Am vergangenen Wochenende war ich mit meiner Familie auf dem Tempelhofer Feld, dem ehemaligen Berliner Flughafen und ich habe meinem Sohn von den Rosinenbombern erzählt.  Deren Piloten – die noch im Krieg die Bomben brachten – haben während der Berlinblockade die Berliner mit dem Lebensnotwendigen versorgt. Ich glaube, dass dieser Einsatz aus Besiegten Freunde werden ließ und dass es auch diese Erfahrungen war, die die junge Bundesrepublik eng an die westlichen Nationen gebunden hat und den Weg Deutschlands zurück in die Völkerfamilie ebnete. Aus Feinden können Freunde werden. Dass in diesem Jahr das niederländische Heer in die Befehlsstruktur des Heeres der Deutschen Bundeswehr integriert wurde und wir gleichsam eine gemeinsame Armee haben, ist ein ganz aktuelles Zeichen der Versöhnung, des nachbarschaftlichen Vertrauens und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit für die Sicherheit Europas und unserer beiden Völker.

Meine Damen und Herren,

spätestens mit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine ist deutlich geworden, dass wir zu einer Neubewertung des Militärischen in unserer Gesellschaft kommen müssen. Die Zeitenwende bedeutete das Ende der Friedensdividende, die wir glaubten, nach dem Fall der Mauer anderweitig nutzen zu können. Wir müssen als Partner unserer Bündnisse, aber auch als Partner der Ukraine unseren Beitrag leisten. Russland muss ernsthaft das Existenzrecht seiner Nachbarn anerkennen. Eine wehrhafte Demokratie muss Signale der Verteidigungsbereitschaft in Richtung aller imperialistischen und autokratischen Versuchungen senden. In den Kontext dieser Neubewertung gehören auch die Diskussionen um Dienst- und Wehrpflicht, um Reservisten, das Heimatschutzregiment und um einen Veteranentag, mit dem wir gesellschaftlich die Leistungen der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz für unsere Demokratie anerkennen und würdigen.

Die Sonderrolle, die Deutschland aufgrund seiner Geschichte spielte – denken wir an die späte Gründung der Bundeswehr, an die pazifistischen Traditionen und die Friedensbewegung – werden wir angesichts der geopolitischen Entwicklungen nicht aufrechterhalten können. Die lang andauernde Zurückhaltung im Bereich des Militärischen bedeutete faktisch, dass wir seit Jahrzehnten gut unter der beschützenden Hand unserer amerikanischen Partner leben durften. Wir werden zukünftig aber mehr Verantwortung übernehmen müssen. Das wird auch von uns als solidarischer Beitrag erwartet. Für die Bundeswehr kommt aufgrund der Größe unserer Bevölkerung und der geografischen Lage inmitten Europas eine besondere Rolle zu: Als Zusammenhang schaffender Rahmen, in den die vielen kleineren Nachbarn besondere Spezialfähigkeiten einbringen können. Das drastische Wort unseres Verteidigungsministers Pistorius, dass die Bundeswehr kriegstüchtig werden müsse, interpretiere ich nicht als sprachliche Mobilmachung, sondern leider als ernsthaften Realismus. Abschreckung und die Fähigkeit zur Verteidigungsbereitschaft sind die politischen Herausforderungen unserer Zeit.

Abschließend möchte ich betonen: Zur deutschen Staatsräson gehört, wie Angela Merkel gesagt hat, auch das Existenzrecht Israels! Und was im Äußeren gilt, bedeutet im Bereich der Innenpolitik, dass wir allen entschlossen entgegentreten, die das Geschenk des jüdischen Lebens in Deutschland bedrohen. Diese demokratische Erinnerungskultur ist für alle in Deutschland Lebenden verbindlich, ganz egal, ob neu hinzugekommen oder seit Generationen ansässig.

Erinnern bedeutet vergegenwärtigen – Gegenwart ist unsere Verantwortung – die zukünftige Wirkung ist unser Ansporn und Hoffnungshorizont!